Herr Gonsierowski, heute beobachten und entwickeln Sie viele Routinen von Weltklasse-Athleten, doch welche Rituale oder Routinen hatten Sie selbst als Sportler?
Gonsierowski: „Ich habe mir damals als Sportler angewöhnt, vor Wettkämpfen manche Dinge immer gleich zu machen. Zum Beispiel habe ich immer einen Spaziergang gemacht, bevor ich an den Schießstand gekommen bin, bei dem ich mir meine Einstellung noch einmal zurecht gelegt habe, all dieses ‚Ja, ich pack es‘, das eine positive Energie freisetzt. Und dann gab es diese Handlungen wie, dass ich die Munition übertrieben lange angesehen habe, das sind alles Dinge, an die ich mich auch heute noch erinnern kann.“
Waren das intuitive Handlungen oder Handlungen, die der Trainer einem beigebracht hat?
Gonsierowski: „Das habe ich für mich selbst entwickelt. Das passiert einfach, wenn man sehr viele Wettkämpfe auf internationalen Bühnen bestreitet. Heute weiß ich mehr darüber und würde einige Dinge sicher besser oder anders machen.“
Gibt es heute auch als Trainer eine bestimmte Routine?
Gonsierowski: „Dadurch, dass ich die Ängste und Zweifel der Sportler selbst erlebt habe, kann ich mich sehr gut in die Sportler hineinversetzen – auch, was die Lösungen für diese Probleme angeht. Routinen, also diese Automatismen, die durch das ständige Wiederholen der Handlungen mein Bewusstsein entlasten, bilden die Basis, um diese Probleme zu beheben. Diese habe ich mir im Training angeeignet. Und hier liegt die Krux: Viele Sportler agieren im Training anders als im Wettkampf, und genau hier passieren dann diese kleinen und mittleren Katastrophen.“
Das heißt, Routinen sollten im Training genauso angewandt werden wie im Wettkampf?
Gonsierowski: „Zwingend! Nur wer das macht, kann ein zuverlässiger Wettkämpfer werden. Das ist das, auf was ich als Trainer großen Wert lege. Ich plane Trainings detailliert aus, so dass wir wettkampfadäquat trainieren.“
Wie bringt man Sportlern Routinen bei?
Gonsierowski: „Das liegt zum einen an der Trainingsgestaltung, aber auch an der Trainingsauswertung. Also das inhaltliche „Nachwaschen“. Im Laufe der Jahre hat sich die Überzeugung verankert, dass das richtige Gespräch und die richtige Auswertung wichtiger ist, als wenn ich einen ganzen Tag ein paar hundert Schuss raushaue. Das ist die Grundlage für Rituale und Routinen, dass jeder Sportler sein eigenes Programm entwickelt, das er im Training anwendet und im Wettkampf als gewohnten und einstudierten Regieplan durchsetzt, um sich auch unter höchstem Druck zuhause zu fühlen. Dabei hat jedoch jeder seinen individuellen Plan.“
Ist es deshalb schwer, Routinen als Trainer bei Sportlern zu entwickeln, gerade weil sie so individuell sind?
Gonsierowski: „Es macht es nicht schwer, sondern spannend und abwechslungsreich. Jeder Mensch ist anders. In unserem Sport lebst du deinen Charakter und dein Temperament, das du auf deine individuelle Art und Weise auslebst. Du musst lernen, deine Stärken zu nutzen und mit deinen Schwächen so umzugehen, dass sie sich im Wettkampf nicht negativ auswirken. Du musst dich kennen und wissen, wie du tickst, damit du in bestimmten Situationen auch das Richtige tust.“
In unserer Sportart geht es darum, Handlungen immer wieder gleich auszuführen – anders als vielleicht bei dynamischen Spielsportarten wie Handball oder Fußball. Sind Routinen in dieser Präzisionssportart dadurch nochmal wichtiger?
Gonsierowski: „Automatismen sind wie ein Grundprogramm. In jedem Wettkampf hast du Krisen zu managen, und wenn du dich da nicht auf deine wettkampfharte Technik, die auf Automatismen aufbaut, verlassen kannst, wirst du mit wehenden Fahnen im Wettkampf untergehen. Wenn du das aber kannst, kannst du deine taktischen Register ziehen und bist in der Lage, das Richtige zu machen und mit Selbstvertrauen und Flexibilität in Situationen zu reagieren.“
In jedem Wettkampf hast du Krisen zu managen, und wenn du dich da nicht auf deine wettkampfharte Technik, die auf Automatismen aufbaut, verlassen kannst, wirst du mit wehenden Fahnen im Wettkampf untergehen.
Mario Gonsierowski über Routinen im Sport
Das heißt, Routinen entfalten ihre wahre Kraft erst in Krisensituationen?
Gonsierowski: „Richtig. Was du im Training gut entwickelt hast, wird dir erst der Wettkampf zeigen. Die Dinge, die dir im Wettkampf auf die Füße fallen, hast du im Training nicht anständig entwickelt. Die erfahrenen Trainer und Schützen sagen immer: ‚Was deine Technik wert ist, erfährst du einzig und allein im harten Wettkampf‘.“
Wir haben bereits gehört, dass sich Routinen entwickeln. Doch sind Routinen nicht auch für Anfänger von Vorteil?
Gonsierowski: „Ich glaube, dass das Training mit Anfängern zu Beginn eher freudbetont sein sollte und weniger ernsthaft ist. Aber ab einem gewissen Kaderstatus – also Bezirkskader aufwärts – sollte man lernen so zu trainieren, wie ich das auch im Wettkampf machen will. Das ist auch das, was ich Nachwuchsschützen immer wieder sage: Diese Handlungen müssen einfach immer wieder geübt, geübt und geübt werden. Selbst, wenn es nicht hundertprozentig richtig ist, wird es dein Programm und dein Anker, um in schwierigen Situationen nicht nachdenken zu müssen, sondern einfach zu machen.“
Die Wissenschaft sagt, dass je besser die Struktur eines Sportlers sei, desto besser sei auch dessen Leistung. Ist das etwas, was Sie mit Ihrer jahrelangen Trainererfahrung bestätigen können?
Gonsierowksi: „Unbedingt. Durch die Zusammenarbeit mit einem Psychologen bin ich auf die Handlungspläne gestoßen, die uns damals an die Hand gegeben wurden. Das ist das, was ich Trainern an Herz legen würde: Hört euch an, wie eure Schützlinge schießen und was sie machen. Man wird dadurch viel erfahren und sich auch manchmal an den Kopf fassen, denn manchmal machen und denken sie Dinge, die du so niemals gesagt hast, aber die sie so verstanden haben. Wie denke ich? Wie organisiere ich? Das kann man analysieren, wenn man viel zuhört, sich viel erzählen lässt und redet. Wenn ich Psychologen beobachtet habe, dann ist mir immer aufgefallen, dass sie mehr zuhören als reden und dann gezielte Fragen stellen. Wir Trainer sind oftmals wie Lehrer und dozieren. Und am Ende kommt nicht viel an beim Schützen. Am Ende sollte es das Ziel sein, mit meinen eigenen Worten, Gefühlen und Bildern alles in das Programm reinzubringen, was mir hilft.“
Handlungspläne, zuhören, analysieren – das sind Ihre Methoden, die wir bisher schon gehört haben, um Routinen zu entwickeln. Gibt es weitere?
Gonsierowski: „Mit dem Smartphone kann man heute ganz leicht kleine Filme oder Fotos von Handlungen machen und dem Schützen zeigen, so dass sich der Sportler einmal von außen sieht. Das sind hilfreiche Mittel, um Dinge verständlicher zu machen, und vor allem bei jungen Sportlern sieht man dadurch grobe Dinge ganz einfach.“
Sie haben schon so viele Sportler auf ihrem Weg begleitet. Welcher war derjenige, der in Sachen Routinen herausgeragt ist?
Gonsierowski: „Alle Sportler, die bis in die Weltspitze vorgedrungen sind, hatten Routinen in ihrer ausgeprägten, individuellen Art. Egal ob Petra Horneber, Hans Riederer oder Barbara Engleder – jeder hatte seinen eigenen Stil, aber immer auf der Grundlage einer soliden, technischen Basis, auf der die Programme aufgebaut waren. Das ist das Wichtigste: Es muss eine solide Grundlage gelegt werden. Zudem muss ein Vertrauensverhältnis herrschen, bei dem ich alles erzähle, denn wenn ich die Ängste meiner Sportler nicht kenne, kann ich keine Strategie entwickeln.“
Und zu guter Letzt?
Gonsierowski: „Ich habe eine Botschaft, die ich allen Sportlern ans Herz legen will: Trainiert so, wie ihr es im Wettkampf machen wollt. Spaß könnt ihr vorher machen oder nachher, aber im Training selbst sollte strukturiertes und gezieltes Agieren stattfinden. Es gilt immer wieder das zu üben, was im Wettkampf gefordert wird. Hier unterscheiden sich diejenigen, die nach oben kommen von denjenigen, die wir immer als ewige Talente einstufen.“