Lisa Unruh: „Es fällt mir sehr schwer loszulassen!“

Erstellt von Manuel am Montag, 20.06.2022 21:08:39 | Kategorie Deutscher Schützenbund

Lisa Unruh, Deutschlands bekannteste und erfolgreichste Bogenschützin, hat ihre Nationalmannschaftskarriere beendet. Wie und wo die Berlinerin zu dieser Entscheidungsfindung kam, wie die Reaktionen darauf ausfielen, was ihre schönsten Momente waren und was sie nun macht, erzählt sie im Interview.

Deine Welt war über Jahre eine (Bogen-)Scheibe. Wann hast du den Entschluss gefasst, deine Karriere zu beenden?
Unruh: „Ich war im Mai auf dem Jakobsweg unterwegs, u.a. auch, um mir die Frage zu stellen, ob ich weitermachen möchte oder nicht. Ich habe viel in den vier Wochen darüber nachgedacht und habe im Prinzip auf dem Weg den Entschluss gefasst, die Nationalmannschaftskarriere zu beenden.“ 

Wie kamst du darauf, den Weg zu gehen?
Unruh: „Ich hatte vor Jahren das Buch „Der Jakobsweg“ von Paolo Coelho gelesen, weil ich den Autor und auch das Buch wahnsinnig gut fand. Da habe ich mir gedacht, dass kann ich eigentlich auch einmal machen. Dann habe ich irgendwann im Flieger den Film von Hape Kerkeling gesehen („Ich bin dann mal weg!“) und habe mich erinnert, stimmt, dass wollte ich ja machen. Und dann habe ich im Oktober den Entschluss gefasst, das in die Tat umzusetzen. Das war eine gute Entscheidung.“ 

D.h. auf diesem Weg ist die Idee gereift, die du dann am Sonntag dem Bundestrainer und dem Team mitgeteilt hast?
Unruh: „Ja, genau! Dazu muss ich sagen, dass ich ein gutes Angebot von einem meiner Vorgesetzten von der Bundespolizei bekommen habe. Ich fange am 4. Juli eine Schwangerschaftsvertretung an, und an diesem Tag beginnt die Einarbeitung. Ich wollte in München zum einen Flori (Florian Unruh, Anm. d. Red.) überraschen, zudem wollte ich es Oliver (Haidn, Bundestrainer, Anm. d. Red.), Thomas (Abel, Sportdirektor, Anm. d. Red.) und dem Team nicht am Telefon sagen. Das war viel schöner als über einen Zoom-Call. Das fühlte sich besser an.“ 

Foto: World Archery / Lisa Unruh beherrschte den Bogen wie keine Zweite in Deutschland zuvor.
Foto: World Archery / Lisa Unruh beherrschte den Bogen wie keine Zweite in Deutschland zuvor.

Ich habe es kurz und knackig gemacht, Lisa like!

Lisa Unruh dazu, wie sie ihre Entscheidung mitgeteilt hat

Wie waren die Reaktionen bei der EM in München?
Unruh: „Bei mir war ein sehr trauriges Auge, ich habe geweint und einige vom Team ebenfalls. Wir haben uns alle in den Arm genommen und mir wurden viele gute Wünsche auf den Weg gegeben. Ich konnte gar nicht so viel sagen, wie ich gerne hätte sagen wollen, weil ich sonst richtig geheult hätte. Deshalb habe ich es kurz und knackig gemacht, Lisa like.“ 

Ist es dir jetzt aktuell leichter gefallen, weil du gesehen hast, dass deine Nachfolgerinnen bereit sind?
Unruh: „Ja, auf jeden Fall! Da sind welche, die die Rolle übernehmen. Das Team ist sehr gut aufgestellt, ich fehle jetzt von der Leistung nicht unbedingt. Alle machen einen super Job, und da bin ich sehr stolz drauf und freue mich total.“

Deine letzten internationalen Pfeile waren sehr, sehr erfolgreiche: Die 10 im Bronzematch in Tokio, die 10 im Stechen zum Sieg des Weltcup-Finals in Yankton (siehe Video unten). Hättest du dir ein schöneres Ende vorstellen können?
Unruh: „Nein, tatsächlich nicht! Daran hatte ich auch gedacht, dass ich vielleicht irgendwann mal schlechter bin als der Rest vom Team und mit eingezogenem Schwanz sage, ich höre auf. Nun kann ich aber mit einem Sieg beim Weltcup-Finale aufhören. Ein besseres Ende kann es eigentlich gar nicht geben.“ 

Ein besseres Ende kann es eigentlich gar nicht geben!

Lisa Unruh zu ihrem letzten internationalen Wettkampf, dem Sieg beim Weltcup-Finale mit einer 10 im Stechen

Wie schwer fällt es dir, loszulassen?
Unruh: „Das fällt mir sehr schwer! Es ist mein Leben. Ich mache seit 25 Jahren Leistungssport, ich war vorher Leistungsschwimmerin. Ich mache nichts anderes seit so vielen Jahren, aber ich denke, es ist die richtige Entscheidung, weil es doch sehr an meine Grenzen ging. Ich hatte wenig Pause wegen der Schulter-Operation und musste das Jahr 2020 nutzen, um wieder zurückzukommen. Ich habe nicht ruhig gemacht, wie andere Schützen. Und das lange Jahr mit der internen Qualifikation zu den Spielen, der Druck. Es war nicht so, dass ich es genießen konnte, sondern ich musste abliefern und konnte das auch psychisch nicht lockerer sehen wie in den Jahren zuvor. Mir blutet das Herz immer noch, weil ich auch nicht mehr Teil des Teams bin. Über Flori bin ich immer noch ein bisschen dabei, und wenn ich in Kienbaum arbeite ja auch, deswegen ist das ein ganz smoother Übergang.“ 

Du sagst, du beendest die Nationalmannschaftskarriere. Das heißt?
Unruh: „Ich könnte mir schon noch vorstellen, international in der Halle zu schießen oder bei einer Deutschen Meisterschaft mitzuschießen. Ich will nicht sagen, ich höre total auf. Ich liebe den Bogensport und die Pfeile fliegen zu lassen immer noch. Deshalb kann ich mir das schon vorstellen, an solchen Wettkämpfen teilzunehmen. Und auch Bundesliga macht mir unheimlich viel Spaß.“ 

Dieser Wettkampf hat mir gezeigt, ich kann doch noch etwas anderes – das war ein Schlüsselmoment!

Lisa Unruh zur erfolgreichen Teilnahme an ihrer ersten Kadetten-WM 2004

Du hast unzählige Höhepunkte bei Olympischen Spielen, World Games, Welt- und Europameisterschaften, Weltcups etc. erlebt. Was waren deine größten, schönsten Momente?
Unruh: „Ich war ja Schwimmerin. Und im Jahr 2004 waren wir in Lilleshall/GBR zu meiner ersten Kadetten-WM – da war ich 16 Jahre alt – und ich gewann Einzel-Bronze und Team-Silber. Und da habe ich mir gesagt, ich vergesse jetzt das Schwimmen, dem ich damals noch hinterhergetrauert hatte, und habe eine neue Leidenschaft. Mit Schwimmen wollte ich zu den Olympischen Spielen, ich wollte Franziska van Almsick sein, ich wollte alles. Und dieser Wettkampf hat mir gezeigt, ich kann doch noch etwas anderes – das war ein Schlüsselmoment.
Natürlich sind mir im Kopf geblieben, die Silbermedaille in Rio; der Titel bei den World Games, den hatte ich mir vorgenommen und habe es geschafft; und ich hatte den Traum, eine Teammedaille bei den Olympischen Spielen zu gewinnen. In Rio war ich eifersüchtig auf die Teamsportarten, die zusammen gewonnen und sich zusammen gefreut haben. Und das habe ich in Tokio geschafft, und das war unbeschreiblich.“ 

Woran hattest du am meisten zu knabbern?
Unruh: „Die zwei verpassten Olympia-Qualifikationen vor Rio, 2008 und 2012, diese Niederlagen haben mich getroffen, haben mich aber auch unheimlich stark gemacht. Sie haben mich noch mehr motiviert, aufmerksamer gemacht, und ich habe versucht, es anders möglich zu machen. Die Niederlagen waren mit viel Schmerzen verbunden, weil es um die Olympischen Spiele ging. Ach ja, und deswegen war der Gewinn des Team-Quotenplatzes bei der WM 2019 in Herzogenbusch großartig, alter Schwede! Da waren drei Tonnen auf unseren Schultern und ich weiß, dass ich mit dem letzten Schuss ein X geschossen habe. Das war eine Freude, der totale Hammer!“ 

2020 musstest du dich einer Schulter-Operation unterziehen. Wie geht es dir körperlich nach so vielen Jahren Hochleistungssport?
Unruh: „Körperlich geht es mir gut! Die Schulter macht gut mit, auch wenn sie nicht so rund läuft wie die linke. Man spürt, dass mal eine Operation war.“ 

Bogenschießen ist mein Leben, das ist ein Riesenteil von mir. Ich liebe einfach das Bogenschießen!

Lisa Unruh über die Bedeutung des Bogenschießens für ihr Leben

Du hast den Bogensport über Jahre geprägt und dem Sport sehr viel gegeben. Was hat er dir gegeben?
Unruh: „Der Bogensport hat mir sehr viel gegeben. Er hat mir viel für die Entwicklung meiner Persönlichkeit gegeben, viel Disziplin. Es ist komplex, daran hängt so viel dran. Ich bekam eine Ausbildung, die nur für Sportler war. Dann durfte ich mein Abitur strecken, und ich bin dankbar, wie es gelaufen ist. Und meinen Mann habe ich auch darüber kennengelernt. Bogenschießen ist mein Leben, das ist ein Riesenteil von mir. Ich liebe einfach das Bogenschießen.“ 

Wie siehst du die Entwicklung des Bogensports über die Jahre hinweg?
Unruh: „Man sieht Riesenschritte! Ich kann mich erinnern, als wir noch nicht so erfolgreich waren. Jetzt ist es ja fast schon Standard, mit einer Medaille vom Weltcup zurückzukehren. Wir sind in der Weltspitze und nicht nur im Mittelfeld, und das ist großartig. Es gibt mehr Gelder für Trainingslager, für Psychologen usw., dazu musste natürlich erst einmal der Erfolg her. Was fehlt, ist nur noch die Bogen-Halle.“ 

Gab oder gibt es etwas, was du verändern würdest in deinem Sport?
Unruh: „Ich finde es schade, dass die Videos nicht mehr auf YouTube laufen und man diese nicht so einfach abrufen kann. Ansonsten wünsche ich mir mehr qualifizierte Trainer in Deutschland.“ 

Ich liebäugle damit und kann mir das sehr gut in fünf bis zehn Jahren vorstellen!

Lisa Unruh über eine Tätigkeit als Trainerin

Du gibst das Stichwort! Gibt es eine Chance, dass du irgendwann als Trainer oder in einer anderen Funktion im Bogensport vertreten bist?
Unruh: „ch liebäugle damit. Ich denke, ich habe die Erfahrung und gebe die gerne weiter. Jetzt aber erst einmal nicht. Ich möchte erst Abstand gewinnen, ansonsten ist es im Prinzip das gleiche Leben wie vorher. Ich kann mir das sehr gut in fünf bis zehn Jahren vorstellen.“ 

Hast du irgendwelche Dinge nicht erreicht, die du dir vorgenommen hattest?
Unruh: „Ich habe fast in jeder Disziplin eine Einzel-Medaille gewonnen, nur bei einer Outdoor-Weltmeisterschaft nicht. Ich hatte auch nie den Wunsch, ich möchte da und da eine Medaille. Ich wollte als Kind schon einfach nur die Beste sein (lacht)!“ 

Dein Leben war getaktet, du hast vier bis sechs Stunden am Tag geschossen, dazu kam Krafttraining, Yoga, Laufen. Wie füllst du diese Stunden jetzt?
Unruh: „Ich werde auf jeden Fall noch ein bisschen weiterschießen, so ein bis zweimal die Woche. Dann mache ich generell gerne Sport. Ich gehe gerne ins Fitnessstudio, mache gerne Krafttraining. Ich liebe Zumba, das mache ich auf jeden Fall ein-, zweimal die Woche. Außerdem Radfahren und Joggen.“ 

Du bist jetzt Polizeikommissarin? Was für Aufgaben warten dort auf dich?
Unruh: „Ich bin in der Aus- und Fortbildung eingesetzt und schreibe die Stundenpläne für die Auszubildenen im Winter, wenn die Sportler zu uns kommen. Und ich bin die Ansprechpartnerin für die Ausbilder, damit ich den Stundenplan anpassen kann, falls irgendetwas anliegt.“ 

D.h. du bist dann die Ansprechpartnerin für Michelle Kroppen & Co?
Unruh: „Nicht für Michelle, die ist nicht mehr in der Ausbildung. Wohl aber für Charly (Charline Schwarz, Anm. d. Red.) zum Beispiel. Wenn sie Nöte oder Probleme hat, was den Unterrichtsplan betrifft, kann sie zu mir kommen.“ 

Das fühlt sich gut an und macht mich stolz!

Lisa Unruh dazu, dass sie nun ein Vorbild für Kinder sein könnte bzw. ist

Wie schön ist es, wie schön wäre es, wenn jetzt Kinder sagen, ich möchte wie Lisa Unruh sein?
Unruh: „Das ist krass. Das fühlt sich gut an und macht mich stolz!“

 

Größte Erfolge
Olympische Spiele: Einzel-Silber 2016, Team-Bronze 2021
Weltmeisterschaften: Mixed-Silber 2017
Europameisterschaften: Fünf Medaillen im Einzel und Team (1x Silber, 4x Bronze)
World Games: Gold 2017
Feldbogen-WM: Einzel-Gold 2014 und 2018, Team-Gold 2018
Weltcup-Finale: Gold 2021
Weltcup: Elf Medaillen im Einzel und Team (1x Gold, 6x Silber, 4x Bronze)
Indoor WM: Einzel-Gold 2016, Team-Gold 2018 
Mehrfache Deutsche Meisterin
Mehrfacher Bundesliga-Champion mit dem BSC BB Berlin
Weltschützin des Jahres 2016 und 2018
Zweimalige Berliner Sportlerin des Jahres 2016 und 2018
Bestleistung 683 Ringe
Beste Platzierung in der Weltrangliste: 4. Platz 2018

Weiterführende Links

Foto: Picture Alliance / Mit dem Gewinn der olympischen Team-Bronzemedaille in Tokio an der Seite von Michelle Kroppen und Charline Schwarz erfüllte sich für Lisa Unruh ein Herzenswunsch.

Quelle: Deutscher Schützenbund

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